Ein Artikel von dem grossen Kenner, Kritiker der Parfums und talentiertem Chemiker - Luca Turin. Es gibt von ihm in Französisch "Parfums - Le Guide" 1994. Sowie ein Buch in Englisch über Turin - Chandler Burr "The Emperor of Scent".
Sei letztem Jahr hat Maestro Turin eine Kolumne in "Neue Züricher Zeitung - Folio". www.nzz.ch (bei FOLIO gucken, Rubrik - "Duftnote").

http://www-x.nzz.ch/folio/archiv/200...es/parfum.html


NZZ Folio 8/04


Duftnote

Schockierend sensationell

DIE DESPEKTIERLICHEN Äusserungen über Nischenparfums, die ich vor einigen Monaten von mir gab, sind nicht ohne die absehbaren Folgen geblieben. Zwei Wochen später erreichte mich eine gebieterische Mail, die mich auf die Existenz einer Parfumfirma aufmerksam machte, von der ich noch nie gehört hatte: JAR, 14 rue de Castiglione, inmitten des gediegenen Paris.
Nachforschungen ergaben, dass es sich um die Parfumabteilung eines nahe gelegenen Juweliers von beinahe mystischer Aura handelt. Dem Katalog nach zu urteilen, den man mir schickte, ist JARs Schmuck märchenhaftes Geschmeide, bei dessen Anblick sich jeder wünscht, dass er König von Brasilien wäre.
Wenn Juweliere (wie Boucheron, Van Cleef et Arpels oder Bulgari) in die Parfumherstellung einsteigen, so meist, weil sie einen grossen Namen haben und ein bisschen Cashflow generieren wollen. Allein, dies kann nicht JARs Motiv gewesen sein, da seine gesamte Kundschaft im Ritz untergebracht werden könnte (und vermutlich auch ist) und da seine Parfums noch viel verschwiegener sind als seine Juwelen.
Ich bat telefonisch um Zusendung einiger Muster und erhielt nach einer Weile die gesamte Kollektion, wunderbar gravierte Flacons in purpurnen Wildlederbeuteln. Von Gerüchts wegen war ich auf Eigenartiges gefasst, und was ich da bekam, war eigen. Die Düfte von JAR sind schockierend wie keine sonst, und ich habe mit dem Schreiben dieser Kolumne zugewartet, bis ich wenigstens ansatzweise verstand, weshalb.
Normale Parfums sind symphonisch: vom Gedanken beseelt, die Rohstoffe so miteinander zu verschmelzen wie ein Komponist Klänge, damit ein Ganzes entsteht, das mehr ist als die Summe seiner Teile und in dem die einzelnen Teile nicht mehr wahrzunehmen sind. Aber die Parfums von JAR sind nicht normal. Sie wurden offenbar von einem Typen komponiert, der seine Tage damit zubringt, Rubine aus einer Schachtel zu klauben und sie neben grosse Perlen zu legen. Edelsteine sind nicht mischbar, Gott behüte, sie leuchten jeder für sich wie verrückt.
Anstelle der üblichen Expertenmischung bekommen wir bei JAR sensationelle Rohstoffe, völlig offen, unter hellem Licht arrangiert, um der grösstmöglichen Wirkung willen. Sie reichen von schlichter Grandeur bis hin zu dem, was P. G. Wodehouse mit leisem Understatement als «ein wenig brüsk» bezeichnet hätte.
Falls Sie das Geschäft besuchen, beginnen Sie am besten mit Golconda, einem gewaltigen orientalischen Duft mit den Wangenknochen von Katherine Hepburn und den Schultern von Joan Crawford. Dann gehen Sie zu Jarling über, der süssesten, giftigsten Heliotropnote, die je erschaffen ward. Geben Sie ihr ein paar Wochen Zeit, um einzusinken, und kehren Sie dann zurück und verlangen nach dem Parfum mit dem gezackten Blitz auf der Flasche. Stichwort: Tuberose und Birne. Falls Sie sich Ihr Leben lang nach André Bretons beauté convulsive gesehnt haben, sind Sie nun fündig geworden.

Luca Turin