Achtung : ellenlang aber ganz interessant :

Es klingt verlockend: Mit ein paar Kompromissen kann man alles gleichzeitig haben – eine glänzende Karriere und ein erfülltes Privatleben. Warum das Quatsch ist.

Haben Sie heute schon den Schreibtisch entrümpelt? Haben Sie Prioritäten gesetzt, Termine mit sich selbst vereinbart, mal so richtig Ihr Leben entschleunigt, wie es Ihr Work-Life-Balance-Ratgeber empfiehlt? Und es trotzdem vor lauter Arbeit nicht rechtzeitig ins Theater geschafft oder das Fußballspiel des Jüngsten verpasst?

Verzweifeln Sie nicht! Der allzeit perfekte Ausgleich zwischen Arbeit und Privatleben kann nicht gelingen, Work-Life-Balance ist Unfug – eine Utopie, an der allerdings
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ein ganzes Heer von Karriereberatern ordentlich verdient.

Die Ratgeber predigen die Heilslehre des geordneten Terminkalenders. Planen, Vorsätze aufschreiben, Listen erstellen und von oben nach unten abhaken – das bringt das Leben in Balance. Der Dauer-Bestseller „Simplify your Life“ von Werner Tiki Küstenmacher und Lothar Seiwert etwa erklärt das Prinzip der Entrümpelung aller Lebensbereiche zum Geheimnis des gelingenden Daseins. Glücklich wird, wer seinen Keller aufräumt.

Definitorischer Unsinn

Eine drollige Idee und eine „gefährliche Illusion“ zugleich, findet der Berliner Betriebssoziologe Ulf Kadritzke. Man kann nicht vier Kinder großziehen, regelmäßig Freunde treffen, den Marathon unter 3:30 Stunden laufen und eine steile Karriere machen. Balance-Ratgeber gaukeln zwar genau das vor, übersehen aber geflissentlich, dass Lebensglück nicht bloß eine Frage des geschickten Selbstmanagements ist.

Manche Dinge sind schlicht nicht planbar. Der Kindergarten schließt just dann wegen Lausbefalls, wenn das Projekt im Job in die Endphase geht. Wer an sich den Anspruch stellt, alle Bereiche jederzeit unter Kontrolle zu haben, scheitert. Was Stress vermeiden soll, erzeugt nur mehr Stress, Frust und ein schlechtes Gewissen.

Schon der Begriff „Work-Life-Balance“ baut einen Gegensatz auf, den es nicht gibt: Wer lebt, arbeite nicht, und wer arbeitet, lebe nicht – definitorischer Unsinn. Das wahre Leben findet nicht nur im Privaten statt. Ein Montagmorgen im Büro kann nach einer Wochenendberieselung durch Sohnemanns Kassette mit Benjamin Blümchen wunderbar entspannend sein. Das Gespräch mit Kollegen bringt neue Ideen, selbst wenn es gar nicht um Berufliches geht.

Arbeit erfüllt nicht ausschließlich den Zweck, den Lebensunterhalt zu sichern. Mit steigendem Jobniveau wird sie identitäts- und sogar gesundheitsstiftend. Untersuchungen zeigen, dass nicht so sehr die Menge als vielmehr die Art der Tätigkeit das Wohlbefinden beeinflusst. Berufliche Erfolge schaffen Bestätigung und Selbstbewusstsein. Wer ein guter Ingenieur oder eine fähige Managerin ist, lässt sich feststellen. Wer als Vater oder Mutter taugt, ist wesentlich schwerer zu ermitteln.

Die amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild befragte dazu Angestellte. Viele berichteten, sie fühlten sich im Job sicher und zufrieden. Zu Hause hingegen warte das Ungewisse, das Stressige: Essen kochen, Hausaufgaben kontrollieren, die Beziehung managen. In den trauten vier Wänden „gibt es kaum noch unverplante Zeit, alles muss wie am Schnürchen laufen, oft gibt es Konflikte“, schildert Hochschild die Sorgen ihrer Gesprächspartner.

Keine Frage, zu viel Arbeit ist ein hochwirksames Gift für Partnerschaft und Familie. Doch anders herum gedacht: Wie viele Beziehungen würden zerbrechen, wenn man sich nicht von Partnerschaft, Familie oder Freizeitstress im Job erholen könnte?

Ökonomische Binsenweisheit

Der Mensch ist von Natur aus unausgeglichen. Er strebt ständig danach, seine Situation zu verbessern. Viele Gründer, Innovatoren, Firmenlenker oder Topverkäufer sind auch deshalb so erfolgreich, weil sie mit dem Status quo nicht zufrieden sind. Sie wollen ihre eigenen Grenzen ausloten und anderen etwas beweisen. Unausgeglichenheit ist ihre Motivation für Leistung und Kreativität. Balance bremst sie nur. Oft sind diese Mitarbeiter die produktivsten, strahlen Optimismus und Erfolg aus – und führen alles andere als ein ausgeglichenes Leben.

Alexander Springensguth gründete in Münster die Kommunikationsagentur Cyrano. Sechs Jahre verbrachte der 30-Jährige allein damit, sein Unternehmen voranzutreiben. Sieben Tage die Woche, nonstop. Es hat sich gelohnt – die Agentur ernährt heute 16 Festangestellte und einen Haufen Freiberufler. „Wenn man als Gründer richtig loslegt, gibt es keine Grenzen zwischen Beruf und Privatleben“, sagt Springensguth. „Ich wollte ein Unternehmen aufbauen und führen. Für anderes hatte ich kaum Zeit."

Balance bedeutet Stillstand. Es ist eine ökonomische Binsenweisheit: Ein Land, in dem Milch und Honig fließen, braucht keinen Wettbewerb. Und jemand, der das Gefühl hat, beruflich alles erreicht zu haben, verliert seinen Ansporn. Der Blick ins Wörterbuch zeigt: Das Wort „Karriere“ ist dem französischen „carrière“ entlehnt und bedeutete mal „Rennbahn“. Karriere machen die Schnellsten und Besten. Auszeiten werfen zurück. Das zeigt das Beispiel des müden Radfahrstars Jan Ullrich. „Topkarrieren werden nicht in Teilzeit gemacht“, bestätigt Oswald Neuberger, Professor für Personalwesen an der Universität Augsburg.

Das gilt künftig noch mehr. Ein Mensch, der 80 Jahre alt wird und davon 40 Jahre erwerbstätig ist, verbringt, günstig gerechnet, weniger als ein Fünftel seiner Lebenszeit mit Arbeit. Dieser Anteil wird gewaltig steigen. Schon haben Konzerne wie DaimlerChrysler (Xetra: 710000.DE - Nachrichten - Forum) und Siemens (Xetra: 723610.DE - Nachrichten - Forum) die Wochenarbeitszeit verlängert, der Autozulieferer Continental will nachziehen. Sogar hoch qualifizierte Arbeitskräfte in den alten Industrienationen konkurrieren mit Tschechen, Indern oder Chinesen. Die sind mittlerweile ebenso gut ausgebildet, haben mit großem Eifer im Ausland studiert. Für sie ist der ersehnte soziale und ökonomische Aufstieg zum Greifen nahe. Sie streben nach Dingen, die für uns selbstverständlich sind: Eine große Wohnung vielleicht, auf alle Fälle Geld für Bildung und Gesundheit, ein Stück Bürgerlichkeit.

Man muss nicht einmal die Globalisierungskeule schwingen. Konkurrenz um die guten Jobs gibt es auch im eigenen Land. Die Jugend registriert genau, dass sie Massenarbeitslosigkeit und Hartz IV nur mit Bildung parieren kann. Und drückt von unten mit besserer Ausbildung, mehr Sprachenkompetenz, Topnoten und Ehrgeiz nach. Die heute 30-Jährigen werden aller Voraussicht nach den Wohlstand ihrer Eltern nicht mehr erreichen. Sie werden für weniger Geld härter arbeiten.

Was ist so falsch daran, dem Job gerade in den ersten Berufsjahren oberste Priorität einzuräumen? In dieser Zeit werden die ökonomischen Grundpfeiler gesetzt. Wer die Gelegenheiten nutzt, steigt auf und verdient mehr Geld. Er baut mehr Vermögen auf und kann zum Beispiel seinen Kindern eine bessere Ausbildung ermöglichen.

Mittelmaß

Dies ist kein zynischer Aufruf, Tage und Nächte im Büro zu verbringen. Fakt ist aber: Die Karrierewahrscheinlichkeit der Stundenklopper ist um ein Vielfaches höher. Und die so genannten „Happy Workaholics“ vermissen nichts. Sie pfeifen auf Balance und haben Spaß daran, lange zu arbeiten. Es ist ihre Entscheidung, diesen Lebensabschnitt so zu verbringen. Und sie stehen dazu. Der Schädel brummt ihnen allenfalls später, wenn sie nicht zu den Konsequenzen stehen und klagen, dass sie das Heranwachsen ihrer Kinder verpasst haben.

Das wird Agenturchef Springensguth nicht passieren. Die harten Gründerjahre waren eine Lebensphase, die nun hinter ihm liegt. Mittlerweile hat er geheiratet und ist seit Februar Vater. Die Wochenenden verbringt er jetzt mit seiner ebenfalls berufstätigen Frau und seiner Tochter, unter der Woche arbeitet er auch mal zu Hause. „Die Familie hat jetzt Vorrang, notfalls muss mich dann im Büro jemand vertreten.“

Berufstätige Mütter und Väter erleben täglich, dass ein in allen Phasen des Lebens befriedigendes Gleichgewicht unmöglich ist. Die „Alles ist machbar“-Versprechen der Zeitmanagement-Priester führen in die Irre. Wer ständig die Balance zwischen Beruf, Familie und Freizeit sucht, schließt ständig und zu viele Kompromisse. Das Ergebnis ist Mittelmaß an allen Fronten.

Ausgeglichenheit ist eher im Längs- als im Querschnitt eines Lebens zu finden. Man muss sich entscheiden, jeder Lebensabschnitt verlangt individuelle Prioritäten. Das wissen vor allem Frauen, die Kind und Beruf unter einen Hut bringen wollen. Setzen sie nach der Geburt länger im Job aus, ist der Karrierezug abgefahren. Steigen sie voll ein, gelten sie als Rabenmütter.

Für Friederike Woermann-Seiger steht derzeit die Familie an erster Stelle. Dafür klappt sie im Büro den Laptop früher zu. Als Beraterin bei Roland Berger hatte sie vier Jahre Vollgas gegeben, 80, 90 Stunden in der Woche. Bis zur Geburt ihres Sohnes Anfang 2003. Dann war Schluss. Ein halbes Jahr hat sie komplett ausgesetzt, danach mit 40 Prozent wieder angefangen. Um überhaupt im Job zu bleiben. Sie legt Wert auf eine klare Trennung: „An zwei Tagen bin ich Beraterin, an den restlichen Mutter.“

Die perfekte Balance? Sicher nicht immer, ihr Leben ist nicht weniger stressig als zuvor, ein kontrolliertes Chaos, die Beraterin koordiniert Kindermädchen und muss Kunden erklären, dass sie gerade auf dem Spielplatz verplant ist. Das Gleichgewicht kann nicht dauerhaft stabil sein, man muss es stets aufs Neue überdenken und justieren: Beim nächsten Baby, dem nächsten Projekt, der nächsten Beförderung. Aber Woermann-Seiger steht zu ihrer Entscheidung, lebt mit den Konsequenzen. Und ist zufrieden.