Liebe Giulia,

da will ich doch gleich mal antworten. Ich habe ja eine besondere Beziehung zu Amerika, denn nach dem Abitur war ich ein Jahr hier als au-pair (eher zufällig, denn damals wollte ich eigentlich lieber nach England ), und diese Erfahrung hat mich definitiv geprägt und verändert. Das Jahr darauf habe ich dann meinen Mann kennengelernt, er ist Amerikaner, und wir sind seitdem zusammen. Zuerst haben wir in Deutschland gelebt, und seit fast 2 Jahren leben wir nun hier in Atlanta.

Am 11. September letzen Jahres waren wir zufällig gerade in Deutschland und haben alles nur im TV mitgekriegt. Mein Mann arbeitet bei CNN und bekam auch gleich einen Anruf, ob er nicht sofort in die Arbeit kommen könnte. Zu diesem Zeitpunkt wußten wir allerdings überhaupt noch nicht, wie wir zurück in die Staaten kommen sollten. Unser Flug war für den 21. Sept über Canada gebucht, und bis dahin gingen dann auch die Flüge wieder. Die Stimmung hier im Land war dann echt beklemmend, und ja, der Patriotismus war noch ausgepägter als sonst. Ich glaube, der Grund, warum den meisten Europäern und besonders Deutschen der amerikanische Patriotismus so aufstößt, ist eben, daß man in Deutschland "das" nicht macht. Der deutsche Normalbürger hat eben keine deutsche Flagge daheim hängen und schon gar nicht vor der Tür. Die Amerikaner sind eben stolz auf ihr Land, die meisten sind ja auch Immigrants, die sich hier den American Dream verwirklicht haben. Daß der Patriotismus hier im Süden wahrscheinlich ausgeprägter ist, als in den eher internationalen Großstädten ist sicher richtig.

Das bringt mich zum Punkt der Ignoranz der Amerikaner (von wegen per Auto nach Deutschland ) Man muß sich hier mal vor Augen führen, wie groß dieses Land ist. Die USA sind ja eigentlich nicht ein Land, sondern (geographisch gesehen) 50 Staaten = Länder, von denen sicherlich so die Hälfte größer ist als Deutschland (nagel mich hier nicht fest mit der Zahl, wahrscheinlich so alles westlich des Missisippi). Da ist es ja eigentlich nachvollziehbar, wenn man sich eher mit den Staaten um einen herum und nicht so mit Europa befaßt, oder? Ich will damit nicht die Ignoranz verteidigen, aber so läßt sie sich zumindest erklären. Europäer sind eben einfach wegen ihrer geographischen Lage viel mehr anderen Ländern, Sitten und Sprachen ausgesetzt und müssen sich zwangsläufig mit den Nachbarn befassen. Dazu kommt, daß man sich hier aktiv darum bemühen muß, internationale Nachrichten zu bekommen, in den örtlichen Zeitungen sind international news eine Spalte und im Fernsehen wird es auch recht knapp gehalten. Again, eine Erklärung, keine Verteidigung.

Was mich auch oft nervt, ist, daß ich Leuten gegenüber, die noch nie in den Staaten waren, und auch nicht daran interessiert sind, herzukommen (das soll kein Angriff sein, es ist ja keine Pflicht, to each his own), die Weltpolitik und unseren idiotischen Präsidenten rechtfertigen soll. Ich finde Bush unmöglich und halte nicht viel von der (derzeitigen) amerikanischen Außenpolitik (or lack thereof), und auch das global cop Getue finde ich nicht so berauschend. Und dennoch ist Amerika so viel mehr als flaggenwedelnde revolverschwingende Texaner - das Land selbst ist unglaublich schön, von der Küste South Carolinas bis hin zu San Francisco, das verrückte Las Vegas, der Mississippi, die Great Lakes, DAS ist eben auch Amerika. Die Leute sind wahnsinnig nett und freundlich (jaja, hier kommt sicher gleich das Argument, wie oberflächlich das doch alles ist - aber ehrlich gesagt ist es mir lieber, wenn jemand in einem Geschäft oder Restaurant oberflächlich nett und höflich zu mir ist, als schlecht gelaunt und grantig, wie das in good old Germany so oft der Fall ist) und man kann sich hier so verwirklichen, wie man will. Das klingt jetzt seltsam, ich meine, man kann sich anziehen und verhalten, wie man will und wird einfach akzeptiert. Wenn ich an die abschätzenden Blicke von Münchner Yuppie-Zicken in Schwabinger Cafes denke, wird mir kotzübel. (Das nur nebenbei.)

Liebe Giulia, sorry daß ich Dich hier so volllabere (mit 3 "l" nach Rechtschreibreform??), aber ich kann Dir nur den Tip geben, schau es Dir einfach mal an. Bis jetzt kenne ich niemanden, der nach einem Besuch hier nicht zumindest beeindruckt war.

Es ist übrigens inzwischen der 11. September, 1 Uhr nachts, und wir sind gerade von einem Baseballspiel Atlanta-NewYork nach Hause gekommen, und bei der amerikanischen Nationalhymne kriege auch ich als Deutsche Gänsehaut.

Ich hoffe und bete, daß morgen nichts passiert, daß mein Mann bei CNN sicher ist und wir diesen Tag in Ruhe und Frieden begehen und danach zu einer Art Normalität zurückkehren können.

Viele liebe Grüße
Beans

Ich geh jetzt ins Bett, nachdem ich das alles 2x getippt habe, weil es mich vorher irgendwie aus dem BB geworfen hat.